Leute, люди (ljudi) und Liberty: Ein indogermanischer etymologischer Fahrplan
Die Etymologie des deutschen Wortes Leute (Plural) wirkt auf den ersten Blick rätselhaft. Im Russischen heißt „die Leute” люди, und das genuin germanische Wort für „ein Volk/eine Nation” ist Volk. Also: Ist Leute vielleicht aus dem Slavischen entlehnt — oder gehen Leute und люди vielmehr auf eine gemeinsame indoeuropäische (PIE) Grundlage zurück?
👉 Lies auch die englische Version der Etymologie des Wortes „Leute”.
Was ist Etymologie?
Etymologie untersucht Herkunft und Bedeutungswandel von Wörtern. Man verfolgt Formen zurück (Neuhochdeutsch → Mittelhochdeutsch → Althochdeutsch), rekonstruiert ältere, nicht bezeugte Stufen mit Stern * (z. B. *leudh-) und vergleicht regelmäßige Lautentsprechungen zwischen Sprachen. Gute Etymologie achtet auf:
- Regelhafte Lautgesetze (z. B. PIE *dʰ → germanisch *d),
- Morphologie (Ableitungen mit -os, -ro usw.),
- Semantik (z. B. „Stammesangehörige” → „Freie” → abstrakt „Freiheit”),
- Erbwort vs. Lehnwort (z. B. lateinisch/französische Entlehnungen vs. genuin germanische Wörter).
Kurz: Etymologie ist historische Sprachwissenschaft am Einzelwort.
Woher kommt das Wort „Etymologie”?
Etymologie geht auf griech. etymon „eigentliche/ wahre Bedeutung” (zu etymos „wahr”) + -logie (griech. logía „Lehre, Kunde”) zurück. Wörtlich also: „Lehre von der eigentlichen Bedeutung (der Wörter)”.
Historische Sprachwissenschaft und Indoeuropäisch
Die historische Sprachwissenschaft untersucht Sprachwandel und Verwandtschaft. Für das Indoeuropäische arbeitet sie mit der vergleichenden Methode: regelmäßige Lautentsprechungen feststellen, Morphologie vergleichen (Ableitungen wie -os, -ro), Bedeutungswandel nachzeichnen — und so entscheiden, ob Formen erblich (Kognaten) oder entlehnt sind.
Beim Stamm *leudh- „Leute; freie Stammesangehörige” ergibt sich mit den üblichen Lautgesetzen (u. a. Grimm’sches Gesetz: PIE dʰ → urgerm. d) die Kette urgerm. *liudiz → ahd. liut → nhd. Leute. Im Slawischen führt derselbe Stamm zu urslaw. *ľud- → russ. люди (ljudi). Eine -ro—Ableitung liefert lat. liber „frei” → libertas „Freiheit”. Form, Bildung und Bedeutung korrespondieren regelmäßig — deshalb sprechen wir hier von Kognaten, nicht von Lehnwörtern.
Wichtig ist die Trennung von Scheinähnlichkeiten: altnord. lýðr „Leute/Volk” (↔ Leute) ist nicht dasselbe wie altnord. ljóð „Gedicht, Lied” (↔ dt. Lied), letzteres geht auf eine andere PIE-Basis (oft unter *leu- „klingen/singen” erfasst). Die historische Methode prüft dazu Lautgesetze (z. B. Grimm/Vernersches Gesetz), Verbreitung über Sprachzweige, früheste Belege und native Morphologie.
Evidenz-Kompass (kurz & bündig):
- Lautgesetze, Ablaut, Laryngaltheorie, Satem/Kentum
- Morphologie (Suffixe -os, -ro, Flexionsparadigmen)
- Semantik (von „Leute” → „frei” → „Freiheit”)
- Breite Verteilung (Germanisch + Slawisch + Italisch), die jüngere Entlehnung unwahrscheinlich macht
Etymologie von Leute
Leute ist das neuehochdeutsche Pluralwort zu ahd. liut „Mensch; Leute” und mhd. liute (Plural). Es ist erblich germanisch, nicht entlehnt:
- Urgermanisch: *liudiz (Sg.) / *liudōz (Pl.) „Mensch; Leute”
- Indogermanisch (PIE): *leudh- „Leute, Stammesangehörige; (im weiteren) Freie”
Kognaten in den IE-Sprachen u. a.:
- Althochdeutsch liut „Mensch; Leute” → Leute (Pluralia tantum im Neuhochdeutschen)
- Altenglisch lēod „Person; Volk, Nation” (später veraltet)
- Altnordisch lýðr „Leute/Volk” (nicht ljóðr „Gedicht/Lied”; letzteres ist der Kognat zu dt. Lied „song/poem”).
- Alt- und neuslavisch люди (ljudi) „Leute”
- Litauisch liaudis „Volk, Leute”
Im Deutschen verschwand der produktive Singular liut, der Plural fossilierte als Leute „Leute/Folks”. Für „ein Volk/eine Nation” dient Volk — ein anderes germanisches Wort mit anderer Herkunft.
Quelle (paraphrasiert & erweitert): Etymonline: leute
Leute im heutigen Deutsch
- Nur Plural: die Leute hat keinen natürlichen Singular der Leut(e) = „eine Person”. Dafür: eine Person, ein Mensch.
- Leute vs. Volk: Leute = Personen im Kollektiv; (das) Volk = „ein Volk/eine Nation”.
- Register: Leute ist alltagssprachlich; Personen in zählenden/formellen Kontexten („max. 4 Personen”).
Historisch existierte im Englischen der Kognat lēod, wurde aber nach 1066 überwiegend durch das romanische people (lat. populus) verdrängt. Das ist Nebenbefund — wichtig ist hier: Deutsch hat Leute (Pluralwort) und Volk (Kollektiv/Nation) aus verschiedenen Wurzeln.
Verwandtschaft: Leute, russ. люди und liberty
Die äußerliche Nähe von Leute und люди ist kein Zufall — beide gehen auf dieselbe PIE-Wurzel zurück.
1) Deutsch Leute
- Formkette: ahd. liut → mhd. liute (Pl.) → nhd. Leute (Pluralia tantum).
- Urgermanisch: *liudiz / *liudōz „Mensch; Leute”.
- Kognaten: aengl. lēod, anord. lýðr, got. liuda.
Leute ist folglich kein slavisches Lehnwort, sondern erblich.
2) Slavisch люди (Russisch)
- Russisch: люди „Leute”.
- Altkirchenslavisch: люди (ljudi) gleichbedeutend.
- Urslavisch: *ľudьje „Leute” (vgl. poln. ludzie, tsch. lidé, serbokroat. ljudi).
3) Gemeinsame PIE-Basis
Beide Zweige gehen auf PIE *leudh- „Leute; Stammesangehörige; (weiter) Freie” zurück. Daraus:
- Germanisch *liud-_ → Leute
- Slavisch *ľud-_ → люди
- Lateinisch liber „frei (Mann)” (-ro-Ableitung) → libertas „Freiheit” → engl. liberty
4) Kontrast Volk
Volk/folk gehört nicht hierher: german. Volk (engl. folk) wird in der Fachliteratur i. d. R. mit einer anderen PIE-Wurzel verbunden (oft *pleh₂- „füllen, Menge”) — also separater Ursprung als Leute/люди.
Von PIE zu Leute/люди: paradigmatische Entwicklung
PIE *leudʰ- „Leute/Freie” bildete u. a. ein thematisches Substantiv:
- PIE: leudʰ-ós (Nom. Sg.) → „(ein) Stammesangehöriger” / leudʰ-óes (Nom. Pl.).
Germanisch:
- PIE leudʰ-ós → urgerm. *liudiz (Sg.), Pl. *liudōz → ahd. liut (Sg./Pl.), mhd. liute (Pl.) → nhd. Leute (nur Pl.).
Slavisch:
- PIE leudʰ-ós → ur slav. *ľudь (Sg.), Pl. *ľudьje → aksl. люди → russ. люди.
Ergebnis: Leute und люди sind echte Kognaten mit paralleler Entwicklung aus derselben PIE-Basis.
Ist liberty verwandt?
Ja, entfernter — über eine -ro--Ableitung:
- lat. liber „frei (Mann)” ← PIE *leudʰ-ro- „zur Gemeinschaft gehörig, frei”
- lat. libertas „Freiheit” → engl. liberty
Damit ergibt sich das semantische Bild der alten Gesellschaft: „die Leute” = die freien Mitglieder des Stammes (im Gegensatz zu Unfreien/Fremden).
Kognaten-Übersicht (PIE *leudh-)
Sprachfamilie / Sprache | Form | Bedeutung | Hinweis |
---|---|---|---|
PIE | leudh-ós / leudh-ro- | Leute / frei (Adj.) | Substantiv vs. -ro-Ableitung („der Gemeinschaft zugehörig”). |
Urgermanisch | *liudiz / *liudōz | Mensch; Leute | Reguläres Ergebnis aus *leudh-. |
Althochdeutsch | liut | Mensch; Leute | Plural überlebt → Leute. |
Mittelhochdeutsch | liute (Pl.) | Leute | Übergang zu Leute. |
Neuhochdeutsch | Leute | Leute (nur Plural) | Alltagswort. |
Altenglisch | lēod | Person; Volk; Nation | Später verdrängt; heute historisch. |
Altirisch (keltisch) | lúath | Leute; Schar, Krieger | Kognat zu PIE leudh-, auch „schnell”; Bedeutungswandel belegt. |
Altnordisch | lýðr | Leute/Volk | Richtiger nordischer Reflex (≠ ljóðr „Gedicht”). |
Slavisch (urslav.) | *ľudь / *ľudьje | Person; Leute | Direkte Fortsetzung der PIE-Substantivbildung. |
Altkirchenslavisch | люди (ljudi) | Leute | Weiter in Ostslavisch. |
Russisch | люди | Leute | Direkte Fortsetzung. |
Polnisch | ludzie | Leute | — |
Tschechisch | lidé | Leute | — |
Serbokroatisch | ljudi | Leute | — |
Latein | liber, libertas | frei; Freiheit | *leudh-ro- → liber → libertas → engl. liberty. |
Nebenreihe: got. þiuda, aengl. þeod „Volk, Nation” und Deutsch (zu ahd. theodisc „volkssprachlich”) gehen nicht auf *leudh-, sondern auf eine andere PIE-Wurzel *teutā- „Stamm, Volk” zurück (vgl. „teutonisch”).
Schlussfolgerung
Leute (Deutsch) und люди (Russisch) sind keine Entlehnungen, sondern Kognaten aus PIE *leudh- „Leute; Freie”. Im Deutschen starb der Singular liut aus; der Plural fossilierte als Leute (Alltagswort), während Volk den Kollektiv-/Nationsbezug trägt — jedoch aus anderer Wurzel. Das lateinische liber/libertas (engl. liberty) ist eine Ableitung derselben PIE-Basis mit dem Sinn „frei” → „Freiheit”. Kurz: Leute, люди und liberty teilen die tiefe gemeinsame Herkunft; Differenzen ergeben sich aus späterer morphologischer und semantischer Entwicklung in den einzelnen Sprachzweigen.
Quellen
- Etymonline — leute (paraphrasiert): https://www.etymonline.com/search?q=leute
- Etymonline — people (zur engl. Entwicklung): https://www.etymonline.com/search?q=people
- Etymonline — leod / lede (n.2) (paraphrasiert): https://www.etymonline.com/search?q=leod
- Wiktionary — люди (Russisch): https://en.wiktionary.org/wiki/%D0%BB%D1%8E%D0%B4%D0%B8
- Wikipedia — Proto-Indo-European language (Hintergrund): https://en.wikipedia.org/wiki/Proto-Indo-European_language
- Wikipedia — Indo-European languages (Hintergrund): https://en.wikipedia.org/wiki/Indo-European_languages
- Deutschsprachige Wikipedia - Indogermanische Ursprache: https://de.wikipedia.org/wiki/Indogermanische_Ursprache